Beitrag Chronik Schaukasten Themen

Zum Ausstellungskatalog: Vorwort der Initiative

A2017_0186__086__ansicht04

„Siehste geht doch!“[1]

Hans Gasparitsch würde sich freuen. Wie gerne hätte er den Tag der Eröffnung des Hotel Silber erlebt. Ein Foto im alten Foyer zeigt ihn, wie er vor dem Eingang des Hauses steht und eine Gedenktafel fordert. Als Jugendlicher war er 1935 wegen Mitgliedschaft in einer Widerstandsgruppe von der Gestapo verhaftet und bis zum Ende der NS-Diktatur in verschiedenen Konzentrationslagern festgehalten worden. Im Juli 1945 hatte er kurz für die Polizei im Hotel Silber gearbeitet. Als Mitglied der KPD und der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes stand er nach dem KPD-Verbot 1956 wieder unter staatlicher Beobachtung. Schon früh  hatte er sich zusammen mit anderen ehemaligen Verfolgten dafür eingesetzt, dass aus diesem Ort des NS-Terrors ein Ort des historisch-politischen Lernens wird, ein Ort der Auseinandersetzung mit den Täter*innen, ein Ort der Würdigung der Opfer, ein Ort gegen das Vergessen, ein Ort des Lernens für die Gegenwart. Im Dezember 2018 ging sein Wunsch in Erfüllung: mitten in Stuttgart steht das Hotel Silber jetzt offen, gibt den Besucher*innen tiefe Einblicke in das Funktionieren der Diktatur, bietet ihnen die Chance sich zu fragen, was uns diese Geschichte heute angeht.

Auf enger Fläche, eingedrängt in die ehemaligen Gestapobüros, eröffnet die Ausstellung einen weiten zeitlichen und räumlichen Horizont.
-Hier rückt der Aufstieg der Nazis ebenso in den Blick wie ihre Begünstigung durch die Politische Polizei, hier gibt es Einblicke in die widersprüchliche Entwicklung der Polizei nach 1945.
– Hier werden Bezüge zu Orten im besetzten Europa sichtbar – von Trondheim bis Athen, von Kiew bis Amsterdam -, wo Gestapobeamte, die zuvor in Stuttgart waren, als Schergen der Besatzungsmacht dienten, Orte, von denen aus Zwangsarbeiter*innen nach Deutschland verschleppt wurden, um die Kriegswirtschaft am Laufen zu halten.
– Hier wird einiges deutlich: Das Hotel Silber war ein Knotenpunkt der NS-Macht in ganz Württemberg und Hohenzollern. Von hier aus wurden die frühen Konzentrationslager auf dem Heuberg und dem Oberen Kuhberg bei Ulm, das Gestapogefängnis in Welzheim sowie die Arbeitserziehungslager in Kniebis-Ruhestein, Oberndorf-Aistaig und Rudersberg gesteuert. Von hier aus wurde die Deportation der jüdischen Bevölkerung und – in Zusammenarbeit mit der Kripo – auch der Sinti und Roma organisiert. Hier hatte die Repression der Zwangsarbeiter*innen vom Bodensee bis Franken ihre Kommandozentrale.
– Hier werden Biografien von Täter*innen durchleuchtet und es wird sichtbar, wie Beamt*innen einer Staatsschutzbehörde sich an Verbrechen beteiligen, wenn sich der Rahmen des Zulässigen verschiebt.
-Hier wird deutlich, wer alles der Repression ausgesetzt war: Menschen, die sich der Diktatur widersetzten, Menschen, die aus der „Volksgemeinschaft“ ausgeschlossen wurden, Menschen, deren sexuelle Orientierung dem Regime nicht passte, Menschen, die sich nicht an das Kontaktverbot zwischen Deutschen und Zwangsarbeiter*innen hielten. Sichtbar wird auch, dass für Sinti und Roma und für homosexuelle Männer die Verfolgung nach 1945 weiterging, dass die aus den Lagern Entkommenen, die „Displaced Persons“(DP), den fortwirkenden rassistischen Einstellungen der Polizei ausgesetzt waren.
– Von hier von hier führen Wege zu den anderen Machtzentren der NS-Diktatur in der Stuttgarter Innenstadt, zu den Deportationsgleisen am Nordbahnhof, zu den Zwangsarbeitslagern auf der Schlotwiese und im Neckartal, zum DP-Lager in der Reinsburgstraße, um nur einige der mit dem Hotel Silber verknüpften Orte zu nennen.

Stuttgart hat jetzt einen Ort, der brisante Fragen aufwirft:
– Wohin führt es, wenn Menschenrechte mit Füßen getreten werden, wenn Minderheiten ausgegrenzt werden, wenn menschliche Vielfalt nicht akzeptiert und der Wahn einer „rassereinen Volksgemeinschaft“ in polizeilichem Handeln exekutiert wird?
– Wie leicht können ganz normale Menschen zu Täter*innen werden, indem sie sich einer mörderischen Politik zur Verfügung stellen und wie kommen sie dazu, im Nachhinein jede Verantwortung für ihr Handeln zu bestreiten?
– Wie wenig selbstverständlich, wie gefährdet und fragil sind demokratische Errungenschaften? Wie leicht können sie verspielt werden, wenn Sicherheitsbehörden, Staatsschutz und Geheimdienste selber zum Risiko werden, sich verselbständigen, sich jeder Kontrolle entziehen und eine eigene Agenda betreiben?
– Wie sicher können wir uns sein, dass das staatliche Gewaltmonopol nicht missbraucht wird, dass sich die Polizei in ihrem Handeln von für alle gleichermaßen geltenden Grund- und Menschenrechten leiten lässt?

Das sind brennende Fragen, wenn man in Betracht zieht, dass bundesweit die Verschärfung von Polizeigesetzen betrieben wird bis hin zur Wiedereinführung der Vorbeugehaft, dass rechte Netzwerke in der Polizei bekannt werden, dass die Mordserie des NSU und die Verstrickung von Geheimdiensten hierin nicht vollständig aufgeklärt wurden, dass Wohnheime für geflüchtete Menschen angezündet, Synagogen und Moscheen angegriffen, gewählte Mandatsträger*innen attackiert oder wie Walter Lübke in Kassel ermordet werden. Brisante Fragen auch angesichts einer in allen Parlamenten vertretenen rechtspopulistischen Partei, deren prominenter Vertreter die NS-Zeit zu einem „Vogelschiss“ der deutschen Geschichte erklärt.

Stuttgart hat auf einen Lern- und Gedenkort wie das Hotel Silber gewartet. Diesen Ort geschichtsbewusster Auseinandersetzung mit der Gegenwart erstritten zu haben, darauf sind wir stolz!

Abriss verhindert

Wie konnte das gegen den erklärten Willen und starke Interessen mächtiger Akteure gelingen? Gegen den Willen des Landes als Eigentümer des Gebäudes und Projektpartner von Breuninger bei der Umgestaltung des Quartiers zwischen Charlottenplatz und Marktplatz. Gegen den Willen der Stadtspitze, die sich des Rückhaltes einer Mehrheit im Gemeinderat sicher sein konnte. Gegen die Stimmung in der Stuttgarter Presse, die von vornherein eine Verhinderung des Abrisses für aussichtslos erklärte.

Was hatten wir dem entgegenzusetzen? Zunächst die feste Entschlossenheit, es zumindest zu versuchen und alle unsere Möglichkeiten bürgerschaftlichen Engagements in dieser Auseinandersetzung auszuspielen.

Zugute kam uns die in langen Jahren der Arbeit am historischen Stadtgedächtnis gewachsene inhaltliche Stärke unseres Aktionsbündnisses.[2] Schnell konnte mit der Broschüre „Tatort Dorotheenstraße“[3] eine faktenreiche Grundlage für die öffentliche Diskussion über die Bedeutung des Hotel Silber und seine Stellung in der Stuttgarter Topografie des Terrors geschaffen werden. Alle Versuche, die Authentizität des Gebäudes in Frage zu stellen, konnten wir leicht zerpflücken. Argumentativ standen die Abrissbefürworter*innen da wie der Kaiser in den neuen Kleidern. Schnell nahm der Kampf um die öffentliche Meinung Fahrt auf. Das ganze Repertoire von Aktionsformen wurde eingesetzt: Unterschriftensammlungen, Mahnwachen, ein Flashmob im Foyer der Firma Breuninger, Plakataktionen, öffentliche Diskussionen, politische Spaziergänge rund ums Hotel Silber. Keine Bühne blieb ungenutzt, überall wurde der drohende Abriss skandalisiert: bei der Pressekonferenz zum Ergebnis des Bebauungswettbewerbes, wo die Firma Breuninger mit ihrer NS-Geschichte konfrontiert wurde, bei der Verleihung der Otto-Hirsch-Medaille an Gunter Demnig, wo der Preisträger der versammelten Rathausspitze erklärte, dieser Abrissplan sei indiskutabel, bei Mai-Kundgebungen des DGB, last but not least beim Deutschen Evangelischen Kirchentag, als die LSBTTIQ- Community einforderte, an diesem Ort erstmals in Baden-Württemberg an die Verfolgung homosexueller Männer zu erinnern.

Während die Stuttgarter Presse zunächst den Abrissbefürworter*innen zur Seite stand, konnten wir überregional Aufmerksamkeit für die Auseinandersetzung wecken. „Süddeutsche“ und FAZ berichteten, und die ZEIT kommentierte „Stuttgart erblindet!“. Die Leiter großer Gedenkstätten solidarisierten sich mit El-De-Haus traten in Stuttgart auf. Letzterer erklärte den geplanten Abriss zur „Kulturschande“; erstmals wurde daraufhin in der Stuttgarter Presse auch eine solche Stimme zitiert. Auf der Bundeskonferenz von „Gegen Vergessen für Demokratie e.V.“ wurde eine Resolution gegen den Abriss beschlossen. Ehemalige Stuttgarter Zeitzeug*innen aus den USA, mischten sich mit Briefen an den Ministerpräsidenten und den Oberbürgermeister in die Diskussion ein. „Es ist mir deshalb unbegreiflich, dass gerade Breuninger, die Stadt Stuttgart, und der Staat Württemberg die vergangenen NS-Verbrechen mit dem Abbau dieses Hotels einfach unter den Teppich schieben wollen“, schrieb Charlotte Isler aus New York. Es wurde immer peinlicher für die Abrissbefürworter*innen.

Schließlich gelang es, das Thema ins Rathaus zu bringen, wo – seltsam genug – bis dahin noch keinerlei Debatte zu den Abrissplänen stattgefunden hatte. Auf Einladung der Fraktion SÖS-Linke konnten wir im Februar 2010 ein Hearing im Rathaus veranstalten, außerdem sprachen wir mit zahlreichen Mandatsträger*innen. Die Nachdenklichkeit in der Kommunalpolitik wuchs, die Zweifel am Sinn der Abrisspläne nahmen zu. Bemerkenswert war es, dass sich in den Fraktionen vor allem Frauen für den Erhalt einsetzten. Im Frühjahr 2010 schwenkte die SPD um und forderte nun ein NS-Dokumentationszentrum am historischen Ort. Die Rathausspitze wurde nervös und organisierte im Juli 2010 eine Konferenz[4], die den Stuttgarter Umgang mit der NS-Geschichte zum Thema hatte, bei der es aber im Grunde nur darum ging, sich von bundesweit angereisten Expert*innen die Unbedenklichkeit des geplanten Abrisses bestätigen zu lassen. Das misslang gründlich. Volkhard Knigge, Leiter der Gedenkstätte Buchenwald machte die Bedeutung des authentischen Ortes für die historisch-politische Bildungsarbeit deutlich. Und Micha Brumlik, der Leiter der Konferenz, erklärte zum Abschluss, die Initiative habe ihn überzeugt.

Befeuert wurde die Auseinandersetzung durch den Großkonflikt um Stuttgart 21, der den Widerwillen gegen die „Stuttgarter Abreißerei“ verstärkte. Bei einer Montagsdemo – drei Tage vor dem „Schwarzen Donnerstag“ – konnten wir auf die Widersprüche in der Haltung der grünen Fraktionsspitze zum Erhalt bzw. zum Abriss des Hotel Silber aufmerksam machen.[5] Der Unmut an der Basis der grünen Partei wuchs, aus der Mitgliedschaft wurde eine außerordentliche Mitgliederversammlung zum Thema durchgesetzt, die mit einem Votum gegen den Abriss endete. Beflügelt wurde die Stimmung auf dieser denkwürdigen Versammlung, weil wenige Tage zuvor  die offizielle  Anhörung der Stadt zum Bebauungsplan völlig aus dem Ruder gelaufen war und sich zu einem Tribunal über die geschichtsblinde Haltung der damaligen Rathausspitze entwickelt hatte. Ausgerechnet am 1. Dezember, dem Jahrestag der ersten Deportation württembergischer Juden und Jüdinnen nach Riga, sollten die Bürger*innen den Abriss des Hauses akzeptieren, in dem diese Deportation organisiert worden war.

Mit dem Schwenk der grünen Partei zeichnete sich eine Mehrheit im Gemeinderat für den Erhalt ab. Jetzt kam es auf den Ausgang der Landtagswahl im März 2011 an! Vorher bündelten wir noch einmal alle Kräfte, waren wöchentlich rund ums Hotel Silber mit Aktionen präsent und mobilisierten drei Tage vor der Wahl für eine Menschenkette um das Haus. Über tausend Stuttgarter Bürger*innen machten an diesem Tag deutlich: wir geben diesen Ort nicht für einen Konsumtempel her. Das Ergebnis ist bekannt: Mappus wurde abgewählt, Grün-Rot kam an die Regierung, die SPD setzte durch, dass im Koalitionsvertrag der Erhalt des Hotel Silber festgeschrieben wurde, das Haus war für das Stuttgarter Stadtgedächtnis gerettet, ein Lern- und Gedenkort sollte hier entstehen.

Jetzt gestalten

Der Abriss war verhindert, jetzt begann eine neue Auseinandersetzung, denn mit dem Erhalt des Gebäudes wollte sich unsere Initiative nicht begnügen. Vielmehr wollten wir das Haus inhaltlich mitgestalten und forderten bürgerschaftliche Beteiligung am Entwicklungsprozess. Zwei Momente kamen uns hierbei zugute:
– Die neue Landesregierung hatte sich die Erweiterung der Bürger*innenbeteiligung aufs Panier geschrieben, eigens hierfür wurde eine Stabsstelle eingerichtet. Und der neue Stuttgarter Oberbürgermeister zeigte sich offen für die Initiative.
– Wie fast überall im Land wird auch in Stuttgart die Erinnerungsarbeit weitgehend von Ehrenamtlichen getragen, die hier Lücken füllen, die Stadt und Land gelassen haben. Auf die in jahrelangem Engagement ihrer Mitglieder entwickelte Kompetenz konnte die Initiative jetzt verweisen. Das galt sowohl für die Recherche als auch für die historisch-politische Bildungsarbeit. Marksteine waren die antifaschistischen Stadterkundungen[6] und das Zeitzeug*innenfilmprojekt des Stadtjugendrings[7], die Recherchen der Stolperstein-Initiativen und die daraus hervorgegangenen Bücher[8], die Erforschung der Deportation der württembergischen Sinti[9], die Herausgabe des Stuttgarter NS-Täter-Buchs[10], die Broschüre zur Vertreibung der jüdischen Künstler*innen aus dem Stuttgarter Kultur- und Theaterleben,[11] das Buch zur Geschichte der Gestapo in Württemberg und Hohenzollern[12], das auf Recherchen zur Verfolgung der homosexuellen Männer und Frauen basierende Internetprojekt www.der-liebe-wegen.org,[13] die Recherchen zu den Krankenmorden[14], die Recherchen zur NS-Strafjustiz[15]und zu den Zwangsverkäufen von Liegenschaften in jüdischem Besitz[16].Vo besonderer Bedeutung für die bevorstehenden Auseinandersetzungen um die inhaltliche Gestaltung des Ortes waren Die Forschungen von Ingrid Bauz, Sigrid Brüggemann, Roland Maier, Ralf Bogen, Jens Kolata und Sarah Kleinmann ,die sie 2013 in dem Buch „Die Geheime Staatspolizei in Württemberg und Hohenzollern“ veröffentlichten. Auf diesen Erfahrungen aufbauend präsentierten wir schon im September 2011 im Stuttgarter Rathaus ein Konzept für die Gestaltung des neuen Ortes und formulierten unseren Anspruch auf umfassende Beteiligung.

Wie sollte das funktionieren? Was hieß das konkret, nachdem bald entschieden war, die Trägerschaft der neuen Einrichtung dem Haus der Geschichte Baden-Württemberg zu übertragen? Den politisch gewollten und von uns verlangten Anspruch auf Beteiligung konkret umzusetzen, wurde zu einem anstrengenden Lernprozess für alle Mitwirkenden aus dem Haus der Geschichte, aus den Ministerien, aus der Stadtverwaltung und nicht zuletzt auch für unsere Initiative. Sehr unterschiedliche Organisationskulturen trafen hier aufeinander. Allen war klar, dass ein Weg in unerforschtes Gelände eingeschlagen, ein Experiment gewagt wurde, das auch scheitern konnte. Die neue politische Offenheit für Bürger*innenbeteiligung hieß noch lange nicht, dass die Verwaltungen darauf vorbereitet gewesen wären, sich auf einen partnerschaftlichen Umgang und echte Mitbestimmung der engagierten Bürger*innen einzulassen. Noch komplizierter wurde das Ganze, weil nicht nur Ehrenamtliche und Amtsträger*innen, sondern auch Stadt und Land sich einigen mussten. Krisenhafte Zuspitzungen waren daher unvermeidlich, als das Raumkonzept aus finanziellen Gründen zusammengestrichen werden sollte oder als fraglich war, ob die Initiative in einem Haus unter der Trägerschaft eines Landesmuseums Veranstaltungen in Eigenverantwortung durchführen dürfe. Doch das beharrliche Verhandeln hat sich gelohnt. Es mündete in ein Vertragswerk, das ganz eigene Organisationsstrukturen schuf, die Vertretung der Initiative in allen Organen der neuen Institution und ihre Mitwirkung sowohl bei der Entwicklung der Dauerausstellung als auch bei der Programmentwicklung sichert. Hilfreich für die Festigung der Zusammenarbeit war es, dass das Haus der Geschichte und die Initiative in den langen sieben Jahren – zwischen der Entscheidung für den Erhalt und der Eröffnung – gemeinsam mehrere Veranstaltungsprogramme organisierten, mit denen die öffentliche Aufmerksamkeit fürs Projekt wachgehalten wurde.

Zur Entwicklung der Ausstellung

Die Dauerausstellung sollte zum Kernstück des neuen Hauses werden. Hier sollte das Wirken der Politischen Polizei umfassend dargestellt werden, und zwar auch in den Zeiten vor 1933 und ab 1945. Kein Wunder, dass es zur größten Herausforderung wurde, diese Ausstellung in einer gemeinsamen Arbeitsgruppe von Haus der Geschichte und Initiative gemeinsam zu entwickeln, eine Arbeit, die sich über sechs Jahre hinzog. Unsere Initiative war auf allen Ebenen beteiligt: bei der Entwicklung des Ausstellungskonzeptes, der Auswahl der Exponate und bei der Formulierung der erläuternden Texte. Sie konnte sich vielfältig einbringen, beschaffte etliche Exponate, stellte hierfür Kontakte zu Zeitzeug*innen und Leihgeber*innen her und unterstützte die Arbeit mit eigenen Recherchen, z.B. zur Rolle der politischen Polizei in der Weimarer Republik, zur Verfolgung homosexueller Männer sowie der Sinti und Roma. Auf Seiten der Initiative arbeiteten Elke Banabak, Ralf Bogen, Elke Martin, Harald Stingele und Dr. Martin Ulmer mit. Ingrid Bauz, Sigrid Brüggemann und Roland Maier[17], wirkten lange Zeit ebenfalls mit, verließen aber die Arbeitsgruppe wegen inhaltlicher Differenzen und atmosphärischer Störungen.

Denn auch wenn viele Themen in der Arbeitsgruppe unstrittig waren, kam es wiederholt zu heftigen Debatten. Es gab methodische Kontroversen über Fragen wie: Soll die Ausstellung streng „am Haus“ bleiben und deshalb die Weiterentwicklung der Geheimdienste nach 1945 ausblenden? Können unterschiedliche Geschichtsauffassungen in der Ausstellung sichtbar gemacht werden? Und es gab inhaltliche Kontroversen. Viel Sprengstoff lag in der Auseinandersetzung darüber, wie der erste, der Zeit vor 1933 gewidmete Raum gestaltet werden sollte. Zu Beginn der Gespräche über die politische Bedeutung der Polizei in der Weimarer Republik lagen die inhaltlichen Positionen zwischen Haus der Geschichte und unserem Team weit auseinander. Streit entzündete sich vor allem an der Rolle des damaligen Polizeipräsidenten Rudolf Klaiber. Doch schließlich konnte sich die gemeinsame Ausstellungsgruppe auf eine akzeptable Lösung für diesen Raum einigen.

Das Ergebnis – nicht nur bei diesem Thema – zeigt: das Streiten hat sich gelohnt. Die Ausstellung liefert Information und Anknüpfungspunkte für weiterführende Diskussionen und erfährt großen Zuspruch. Vieles, was uns wichtig war, findet sich in der Ausstellung wieder, etwa die Bezüge zwischen der Staatsschutzabteilung der Polizei und dem mit dem Namen Gehlen verbundenen Bundesnachrichtendienst im letzten Raum oder der zeitübergreifende Blick auf die Polizei im Mittelgang sowie die aktuellen Fragen an die Polizei am Ende der Ausstellung.
Einige Wünsche blieben – auch aus Platzgründen– offen; so endet die Ausstellung in der unmittelbaren Nachkriegszeit, wodurch nicht sichtbar wird, wie sich der Politikwechsel im Kalten Krieg in der Polizeiarbeit abbildet und wie Traditionslinien in die neuen Geheimdienste der Bundesrepublik hineinwirken. Doch das sind Themen, die im Lauf der Zeit auch in Wechselausstellungen aufgegriffen werden – oder bei einer zukünftigen Erweiterung der Ausstellungsfläche.

Offene Wünsche

Denn es gibt noch viele Möglichkeiten für eine sinnvolle Ergänzung der Einrichtung. Bisher steht ihr nur ein Drittel des Gebäudes zur Verfügung. Das hält vielfältige Entwicklungsperspektiven offen. Ein Museumscafé fehlt, ein Rückzugsort, an dem Besucher*innen das in der Ausstellung Erlebte nachwirken lassen und miteinander besprechen können. Weiter fehlt eine kleine Bibliothek mit Arbeitsplätzen für die Recherche, wo z.B. Schüler*innen einzelnen Themen vertieft nachgehen könnten. Nicht vergessen ist die schon 2012 von uns formulierte Idee einer „Forschungsstelle“, bei der ehrenamtlich Forschende Beratung und Austausch für ihre Vorhaben finden könnten. Es fehlt schließlich ein Museumshop, in dem Publikationen und Materialien rund um die Themen des Hotel Silber erhältlich wären.

Dafür werden wir uns einsetzen und hoffen auf offene Ohren in der Politik. Wie offen diese Ohren sein werden, hängt von vielem ab, vor allem aber davon, wie sich das Haus entwickelt und ob es die Erwartungen erfüllen kann. Wird das Zusammenwirken zwischen Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen im Haus langfristig gelingen? Wird die Initiative ihre vielfältigen Vernetzungen in der Zivilgesellschaft für die Arbeit des Hauses fruchtbar machen können? Vor allem aber: Wird das Hotel Silber ein lebhafter, gesellschaftlich relevanter Ort für angeregte Diskussionen, ein Ort, an dem aus dem Erinnern an damals konkrete Schlüsse für die Gegenwart gezogen werden, ein Ort, der hilft zu verstehen, wodurch demokratische Errungenschaften gefährdet sind und was deshalb zu tun ist?

Ein langer Weg liegt hinter uns. Ein noch längerer Weg liegt vor uns. An diesem Punkt des Weges möchten wir allen Menschen herzlich danken, die ihren Teil dazu beigetragen haben, dass das Hotel Silber erhalten blieb und seine Aufgabe als Leuchtturm in diesen stürmischen Zeiten erfüllen kann.

Im Namen der Initiative Lern- und Gedenkort Hotel Silber e.V. und ihrer AG Ausstellung

Harald Stingele, Elke Banabak, Ralf Bogen, Elke Martin, Dr. Martin Ulmer



[1] Eine Postkarte mit diesem Titel kursierte in Stuttgart, kurz nachdem im Frühjahr 2010 die Ergebnisse des Architektenwettbewerbs für das Dorotheenquartier bekannt geworden waren. Dort ist das Hotel Silber in eine Zeichnung des Siegerentwurfs hineinmontiert, als wäre es integriert.  Diese Postkarte ist jetzt Teil des „Prologs“ der Dauerausstellung im Erdgeschoss.

[2] Hier finden Sie die Übersicht über unsere Mitgliedsorganisationen. http://hotel-silber.de/?page_id=32.
Die meisten von ihnen waren auch Mitglied des Aktionsbündnisses.

[3]Tatort Dorotheenstraße. Initiative für einen Gedenkort im ehemaligen Hotel Silber (Hg.), Peter-Grohmann-Verlag, Stuttgart 2009
Mehr Infos zu diesem Buch finden Sie hier.

[4]Dokumentation zum Hearing „Erinnerungsorte in Stuttgart“ vom 17. Juli 2010. https://www.stuttgart.de/img/mdb/publ/19448/64447.pdf

[5] Rede Harald Stingele am 27.9.2010,:die Rede finden Sie hier.

[6] Die antifaschistischen Stadterkundungen des Stadtjugendring Stuttgart wurden bis 2000 begleitet von Zeitzeug*innen aus den Reihen der VVN/BdA, danach  von Freiwilligen des Arbeitskreises „Antifaschistische und alternative Stadterkundungen“. Sie bieten Jugendgruppen, Schulklassen und weiteren Interessierten die Möglichkeit die Geschichte des Nationalsozialismus mit Orten des heutigen Stuttgart zu verknüpfen. Sie gehörten lange Zeit zu den wenigen, die die Rolle des Hotel Silber im Stadtgedächtnis wachhielten. Mehr Infos zu den Stadterkundungen finden Sie hier.

[7]FRAGEZEICHEN – Jugendliche im Gespräch mit Zeitzeug*innen des Nationalsozialismus. 25 Filme von Steffen Kayser entstanden zwischen 2012 und 2018 in Kooperation des Stadtjugendrings mit den Stolperstein-Initiativen. Zur Zeit wird eine Neuedition der Filme mit begleitenden Informationen vorbereitet.
Mehr Infos zum Filmprojekt finden Sie hier.

[8]Harald Stingele und Die AnStifter (Hg.), Stuttgarter Stolpersteine – Spuren vergessener Nachbarn – Ein Kunstprojekt füllt Gedächtnislücken, Stuttgart 2006,
Mehr Infos zum Buch finden Sie hier
Rainer Redies (Hg.), Zehn Jahre Stolpersteine für Stuttgart. Ein bürgerschaftliches Projekt zieht Kreise, Stuttgart 2013
Mehr Infos zum Buch finden Sie hier.

[9]Eine Arbeitsgruppe erforschte die Namen der 247 württembergischen Sinti, die am 15. März 1943 vom Nordbahnhof nach Auschwitz deportiert wurden. Ihre Namen sind seit 2008 an der Gedenkwand im „Zeichen der Erinnerung“ sichtbar. Erstmals wurde am 65. Jahrestag  am 15.3.2008 in einer Gedenkstunde am „Zeichen der Erinnerung „und in einer Abendveranstaltung an diese Deportation erinnert. Infos hierzu finden Sie hier.

[10]Hermann G. Abmayr (Hg.), Stuttgarter NS-Täter. Vom Mitläufer bis zum Massenmörder. Stuttgart 2009
Ausführliche Infos zum Buch finden Sie hier sowie hier auf der Seite des Schmetterling-Verlags.

[11] Ingrid Bauz, Sigrid Brüggemann, Roland Maier. „Sie brauchen nicht mehr zu kommen!“ Die Verdrängung der Künstlerinnen und Künstler jüdischen Glaubens und jüdischer Abstammung aus dem Stuttgarter Kultur- und Theaterleben durch die Nationalsozialisten, Stuttgart 2008
Mehr Infos zur Publikation finden Sie hier.

[12]Ingrid Bauz, Sigrid Brüggemann, Roland Maier (Hrsg.), Die Geheime Staatspolizei in Württemberg und Hohenzollern, Stuttgart 2013
Mehr Infos zum Buch finden Sie hier.

[13]https://www.der-liebe-wegen.org/ – Internetprojekt von Weißenburg e.V. und Rosa Hilfe Freiburg e.V.
– Von Menschen im deutschen Südwesten, die wegen ihrer Liebe und Sexualität ausgegrenzt und verfolgt wurden

[14]Elke Martin (Hg.). Verlegt. Krankenmorde 1940-41 am Beispiel der Region Stuttgart.
Mehr Infos zum Buch finden Sie hier.
Karl-Horst Marquart, „Behandlung empfohlen“ – NS-Medizinverbrechen an Kindern und Jugendlichen in Stuttgart. Stuttgart 2015
Mehr Infos zum Buch finden Sie hier.

15]Vor allem die jahrzehntelange Vorarbeit von Fritz Endemann führten dazu, dass Anfang 2019 im Stuttgarter Landgericht in der Urbanstraße mit einer Namensstele und einer Ausstellung an die dort Hingerichteten erinnert wird. Infos zur Ausstellung zur Dauerausstellung zur NS-Justiz im Landgericht finden Sie hier.

[16]Josef Klegraf, Wie sich die Landeshauptstadt Stuttgart in der NS-Zeit bereicherte, in: Ausgrenzung – Raub -. Vernichtung. NS-Akteure und „Volksgemeinschaft“ gegen die Juden in Württemberg und Hohenzollern 1933 bis 1945. Herausgegeben von Heinz Högerle, Peter Müller und Martin Ulmer. Stuttgart 2019
Mehr Infos zum Buch finden Sie hier.

[17]Herausgeber*innen des Buches „Die Geheime Staatspolizei in Württemberg und Hohenzollern. Stuttgart 2013