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Erinnerung von Charlotte Isler an den 9. November 1938

Charlotte Isler, geb. 24.11.1924 in Stuttgart, schickte uns am 8.11.2025 per EMail aus Irvington, New York, wo sie lebt, diesen Brief:

Hotel Silber, 2025

Kristallnacht, Mittwoch, dem 9. November 1938,  –  nie werde ich Kristallnacht vergessen! Aber erst am nächsten Tag erfuhren wir was in der Nacht zuvor geschehen war. Die Festnahmen tausender Männer, Verprügelungen, Plünderungen jüdischer Geschäfte, und abbrennen von Synagogen, erfuhren wir nur langsam, denn es gab keine Fernseher, und Radios meldeten nichts. Nachrichten bekamen wir nur durch Telefonanrufe von Freunden und Bekannten während der nächsten paar Tage.

     Es war der Anfang vom Ende des Lebens so wie wir es gewohnt waren, obwohl schon vorher viele Veränderungen in unserem Leben vorgekommen waren. Am 10. November gingen mein jüngerer Bruder und ich wie immer in die Schule. Mir wurde befohlen mich sofort bei dem Direktor der Schule zu melden. Als ich in seinem Büro eintrat, sass er an seinem Schreibtisch, in brauner SA Uniform, grosses Hakenkreuz am linken Aermel. Er sah mich nur kurz an, und befahl mir sofort zurück in mein Klassenzimmer zu gehen, meine Schulsachen zu packen, nach Hause zu gehen, und nicht wieder in der Schule zu erscheinen. Nach diesen Worten war ich entlassen.

     Verständnislos ging ich zurück in meine Klasse, packte meine Sachen ein und ging nach Hause. Die Lehrerin sagte kein Wort, die anderen Mädchen verstanden nicht warum ich ging. Mein Bruder wurde zur selben Zeit aus dem Karlsgymnasium, wo er in die erste Klasse ging, nach Hause geschickt.

     Mein Vater wurde am nächsten Morgen um sechs Uhr von zwei SA Leuten abgeholt und in der Polizeistation an der Tübingerstrasse in eine Zelle eingesperrt. Meine Mutter hatte ihm noch schnell ein Koefferchen gepackt und gefragt: “Wo bringen Sie ihn denn hin?” “Das können wir Ihnen heute nicht sagen, war die kurze Antwort.” Mein Vater war erst vor ein paar Tagen vom Krankenhaus nach einer Operation entlassen und nach Hause gekommen, und konnte kaum gehen. Anstatt wie die meisten Männer an diesem und den folgenden Tagen in das Konzentrationslager Dachau abtransportiert zu werden, hatte er das grosse Glück nach ein paar Tagen von der Polizei wieder entlassen zu werden.

     Alles verschlimmerte sich danach. Viele jüdische Bürger hatten längst ihre Stellen und Posten verloren. Rechtsanwälte, Ärzte, Künstler hatten schon vor einigen Jahren ihre Tätigkeiten aufgeben müssen. Juden konnten kein Theater, keine Opern, oder Kinos besuchen. Eingang zu Schwimmbädern und anderen öffentlichen Orten wurde Juden verboten. Etwas später wurde ihnen untersagt Nahrungsmittel wie Butter und Rahm zu kaufen. Die  meisten jüdischen Männer in Stuttgart, und überall in Deutschland, im Alter von 16 aufwärts, waren abgeschleppt. In Dachau wurden sie misshandelt, und, wenn sie keine Möglichkeit hatten aus Deutschland zu fliehen, weiter in ein Vernichtungslager transportiert, oder  in Dacchau umgebracht.

     Mein 16-jähriger Freund Rudi versteckte sich im Degerlocher Wald, wohin ich ihm täglich Essen brachte. Er entkam irgendwie nach England, und wurde deshalb nicht, wie so viele andere Männer, nach Dachau gebracht. Meiner Familie war es gerade noch möglich im April, 1939, nach Amerika zu fliehen. Heute, 87 Jahre später, weiss ich immer noch ganz genau wie diese letzte Zeit in Stuttgart verging. Meine Eltern mussten alles was sie an Geld, Schmuck, und sonstigen Wertsachen besassen abgeben, als “Reichsfluchtsteuer.” Nur das notwendigste Geld für Flugzeug-Eisenbahn- und Schiffsbillets wurde ihnen erlaubt zu behalten so dass wir Deutschland verlassen, und unser Leben retten konnten.

     Ich erwähne diese Erlebnisse, um sie in Kontext mit dem Hotel Silber zu stellen.

     Ich glaube es war 2010 als ich eine Mitteilung von Herrn Harald Stingele , mir unbekannt bis dahin, einen Brief erhielt. Er erklärte mir er sei Mitglied einer Initiative, die sich bemühte das frühere Hotel Silber in Stuttgart, das während der Hitlerzeit Hauptquartier der GESTAPO gewesen war, zu erhalten. Dort wurden jüdische Menschen verhört, inhaftiert, oft gefoltert, getötet oder nach Konzentrationslagern abtransportiert.

     Die Stadt Stuttgart aber wollte, zusammen mit dem Kaufhaus Breuninger, das sein Geschäft zu erweitern suchte, das Hotel Silber abreissen, und diesen Stadtteil modernisieren, um neue Gebäude, Läden, und ein Hotel zu errichten.  Um dieses zu verhindern, bat Herr Stingele mich und andere Zeugen, Briefe an wichtige Politiker und Beamte zu schreiben, und sie anzuregen die Zerstörung dieses wichtigen historischen Gebäudes zu verhindern. Das tat ich natürlich gern und sofort. Herr Stingele schickte mir eine Liste von bedeutenden Persönlichkeiten wie Stephan Mappus, Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Dr Wolfgang Schuster, Oberbürgermeister der Stadt Stuttgart, Fraktionen im Stuttgarter Gemeinderat, und Herrn Willem v. Agtmael, Firma Breuninger. Daraufhin verfasste ich einen Brief und erklärte diesen Herren klar und deutlich dass es ihre Pflicht sei dieses Gebäude zu bewaren, und auf keinen Fall abzureissen, damit es in Zukunft als Lern- und Gedenkstätte benützt werden könnte.

     Zu meinem grossen Erstaunen haben wir diesen Kampf gewonnen! Das Hotel Silber blieb, so wie es war, und die Initiative begann ihr Werk dieses Gebäude in eine Lern- und Gedenkstätte zu gestalten. In 2018 wurde es offiziell eingeweiht. Stuttgart lud meinen Sohn Donald und mich dazu ein. Wir bewunderten den Umbau, und die Errichtung der verschiedenen Räume die fortan vielen verschiedenen Zwecken dienten. das Hotel Silber hat sich seitdem sehr bewährt: Vorträge. Programme, Ausstellungen, tragen dazu bei dass die NS Zeit nicht vergessen wird. Die Initiative, unter der Leitung des Haus der Geschichte von Baden-Wuerttemberg, seiner Leiterin Cornelia Hecht-Zeiler, Brigitte Loesch, Elke Banabak, und des Vorstands der Initiative Hotel Silber, bemühen sich seither dem Publikum viele Veranstaltungen zu bieten. Ich bewundere die Initiative Hotel Silber, alle ihre Mitarbeiter, und ihr Streben die NS Zeit wach- und dem Publikum weiter vor Augen zu halten.

     Ich hatte als Vierzehnjährige kein Interesse daran je wieder nach Stuttgart zurückzukehren. Heute, 87 Jahre später, nach meiner ersten, ursprünglichen Rückkehr nach Stuttgart in 1967, und dem Treffen mit einer Reihe von Stuttgarter-innen, meinen öfteren seitherigen Aufenthalten dort, neuen Bekannt- und Freundschaften, und Stuttgarter Besucher-innen hier in Irvington, hat sich meine Meinung diesbezüglich allerdings geändert. Ich erlebe im Alter von beinahe 101 eine Wiedervereinigung mit Stuttgart. Obwohl ich nie vergessen werde was während der NS Zeit passierte, bin ich glücklich dass es ein Hotel Silber in Stuttgart gibt, und dass ich die Zusammenarbeit mit, und die grossen Erfolge des Hotel Silber erleben konnte.

Charlotte Isler

8. November, 2025

Charlotte Islers Autobiographie ist  2023 in der Schriftenreihe des Stadtarchivs Stuttgart  in Zusammenarbeit mit ihr auf Deutsch erschienen:

Charlotte Isler, Stuttgart: Flucht und Wiederkehr.
Veröffentlichungen des Archivs der Stadt Stuttgart, Band 115.
Hrsg. von Katharina Ernst.
224 Seiten mit 42 meist farbigen Abbildungen, fester Einband.
ISBN 978-3-95505-413-7. EUR 21,90.

https://verlag-regionalkultur.de/buecher/juedische-geschichte/stuttgart-flucht-und-wiederkehr