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23 Juli 2023:Julius Wissmann – der Organisator der ‚Kindertransporte‘ der Jüdischen Gemeinde nach England und die Fluchtgeschichte seiner Familie

Vortrag und Gespräch

Matinée
23. Juli 2023, Hotel Silbe
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Yan Wissmann, Urenkel von Julius Wissmann, sprach über seinen Urgroßvater und dessen Bedeutung für die jüdische Gemeinde in Württemberg in den 1930er Jahren mit Michael Kashi vom Vorstand der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg.

Moderation: Harald Stingele

Tonmitschnittder Veranstaltung

„…Organisiert hat diese Transporte, die vor allem nach England gingen, wo etwa 10.000 Kinder aufgenommen wurden, der Geschäftsführer der Israelitischen Gemeinde Württembergs, Julius Wissmann, der auch die Visaverhandlungen für die Auswanderung von Juden in die USA mit dem damaligen amerikanischen Konsulat in Stuttgart führte. Am 10. November 1939 wurde auch Wissmann von der Gestapo verhaftet und 10 Tage im Polizeigefängnis in der Büchsenstraße, der berüchtigten “Büchsenschmiere”, festgehalten. Er entging nur knapp der Deportation nach Dachau, setzte sich aber auch nach seiner Entlassung unermüdlich für die Rettung weiterer Juden ein, bis ihm mit seiner Familie im April 1939 die Flucht nach Brasilien gelang.“

Veranstalter*innen: Haus der Geschichte Baden-Württemberg, Initiative Lern- und Gedenkort Hotel Silber e. V., Israelitische Religionsgemeinschaft Württemberg, Stuttgarter Stolperstein-Initiativen


Yan Wissmann bei der Verlegung der Stolpersteine für Julius Wissmann und Familienangehörige

Julius Wissmann wurde am 22. August 1898 als eines von sieben Kindern des Stadtrates und Religionsoberlehrers Selig Wissmann in Künzelsau geboren. Bereits während der Realschulzeit litt Wissmann unter dem dort herrschenden Antisemitismus, weshalb er in die israelitische Präparandenschule in Burgpreppach (Landkreis Hofheim in Bayern) wechselte und schließlich im April 1914 in das jüdische Lehrerseminar in Köln eintrat. 1917 wurde er zum bayerischen Heer eingezogen, erst zur Infanterie nach Bamberg, dann zu den Pionieren nach Speyer. Im März 1919 vom Militär entlassen, trat er in einen Kriegsteilnehmerkurs im evangelischen Lehrerseminar in Künzelsau ein. Unmittelbar nach der Prüfung im Juli 1919 wurde er Lehrer in der jüdischen Volkshochschule in Braunsbach und blieb es bis zur Auflösung der Schule im August 1923. Da keine Volksschullehrerstelle frei war, wurde er Geschäftsführer einer Großschlächterei in Mergentheim und übernahm auf dringendes Ersuchen der Oberkirchenbehörde im Februar 1924 den freigewordenen Posten des Geschäftsführers des Oberrats der Israelitischen Gemeinde Württemberg in Stuttgart. Er stieg vom Sekretär nach und nach zum Oberrechnungsrat (Geschäftsführer) auf. Auf Wissmann gehen viele Errungenschaften in der Israelitischen Gemeinde Württemberg zurück, wie beispielsweise der Aufbau und die Neustrukturierung von zahlreichen Gemeinden landesweit. Er legte einen besonderen Schwerpunkt auf den Ausbau der israelitischen Schulen, was sicherlich auch auf seinen Lehrerhintergrund zurückzuführen war.
Sein Amt bekleidete Wissmann bis April 1939. Mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus organisierte er sämtliche Rettungsaktionen von jüdischen Deutschen in unterschiedliche Länder. Wissmann koordinierte nicht nur die Visavergabe-verfahren, sondern führte europaweit Aktionen wie die Transporte zur Rettung jüdischer Kinder persönlich durch, weshalb er u.a. nach London, Paris und Amsterdam reiste. Insbesondere in den Visaverhandlungen für die Flucht von Juden nach Amerika spielte Wissmann eine bedeutsame Rolle, da sich die entsprechende Zuständigkeit beim damaligen amerikanischen Konsulat in Stuttgart befand und viele Verhandlungen notwendig waren.
In der Progromnacht des Jahres 1938 wurde Wissmann von der Gestapo inhaftiert und blieb zehn Tage im Gefängnis in der Büchsenstraße, der berüchtigten „Büchsenschmiere“. Selbst von dort versuchte er weiterhin über weitere Ausreiseverfahren mit der Gestapo zu verhandeln. Nur knapp entging er der Deportation nach Dachau.

Nach seiner Entlassung nahm er seine Arbeit wieder auf und führte diese bis zu seiner Flucht – mit seiner Frau und den zwei Kindern – im April 1939 fort. Wissmann arbeitete ununterbrochen für die Rettung der Württemberger Juden. Dank seiner außerordentlichen Courage, seines Pflichtbewusstseins sowie seines Verhandlungsgeschicks gegenüber der NS-Verwaltung gelang es ihm, das Leben vieler Familien
zwei Kindern – im April 1939 fort. Wissmann arbeitete auch nach seiner Entlassung aus der Gestapohaft unermüdlich für die Rettung württembergischer Juden. Dank seiner außerordentlichen Courage, seines Pflichtbewusstseins sowie seines Verhandlungs-geschicks gegenüber der NS-Verwaltung gelang es ihm, das Leben vieler Familien zu retten.

Julius Wissmann starb in Sao Paulo im Jahr 1970. Ausführliche Informationen zu seinem Wirken in der Israelitischen Gemeinde Württembergs in den Jahren 1924 bis 1939 sind in dem Buch des Archivars Paul Sauer zu finden: Die Jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern – Denkmale, Geschichte, Schicksale. W. Kohlhammer Verlag, Stuttgart. 1966.

Broschüre zur Stolperstein-Verlegung für Julius, Klärle, Ernst und Kurt Wissmann
am Donnerstag, 9. Juli 2020 an der Neuen Weinsteige 1
im Stuttgarter Süden