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Neun gute Gründe für ein NS-Dokumentationszentrum im Hotel Silber

Zum Hearing im Stuttgarter Rathaus im Juli 2010 legte die Initiative ihre „Neun guten Gründe für ein NS-Dokumentationszentrum im Hotel Silber“ vor. Kein Ort eignet sich hierfür besser.

  1. Ein NS-Dokumentationszentrum in der Landeshauptstadt Stuttgart ist überfällig. Andere große Städte in Deutschland haben hierfür Maßstäbe gesetzt. Es fehlt hier ein Ort, an dem die Verfolgung aller Opfergruppen, der Widerstand in all seinen Facetten, das Funktionieren des NS-Regimes systematisch und konkret auf Stuttgart und Württemberg bezogen dargestellt wird. Es fehlt ein Ort, an dem sich Gedenken mit Lernen, Verstehen und Forschen verbindet. Es fehlt eine Dauerausstellung,   in der das Wissen über diese Zeit für die Bevölkerung, insbesondere für die nachkommenden Generationen,  mit modernen museumspädagogischen Mitteln erschlossen wird und die Beziehungen  zwischen Opfern, Tätern und Zuschauern in der NS-Zeit Stuttgarts und Württembergs durchschaubar werden.
  2.  Die Verweise auf das Haus der Geschichte und das zukünftige Stadtmuseum überzeugen nicht. Die NS-Zeit war nicht irgendeine Episode, sie war der unvergleichbare Bruch in der Stadt-und Landesgeschichte. Ihre Darstellung braucht einen eigenen Raum, eigene Kapazitäten  und beansprucht besondere Aufmerksamkeit. Dies würde den Rahmen dieser Institutionen sprengen. Ein NS-Dokumentationszentrum in der Landeshauptstadt würde die übers Land verteilten Gedenkstätten und Erinnerungsorte in doppelter Hinsicht ergänzen und vervollständigen. In vielen Gemeinden des Landes wurde die lokale Geschichte der NS-Zeit aufgearbeitet. Doch ausgerechnet für die Landeshauptstadt fehlt ein solcher Ort.  Für die dezentralen Gedenkstätten stehen bestimmte Perspektiven der NS-Geschichte, eine einzelne Opfergruppe, eine lokale Einrichtung, eine einzelne Person oder ein  spezifisches Ereignis im Fokus. Was fehlt ist eine Darstellung der Zusammenhänge.
  3. Nirgendwo in Baden-Württemberg wird an die Verfolgung der Homosexuellen erinnert, nirgendwo wird das Unrecht, das ihnen zugefügt wurde, dokumentiert. Dasselbe gilt für die die sogenannten Asozialen, Obdachlose und andere Menschen, die verfolgt wurden, weil sie nicht der Normalitätsdefinition der Nazis entsprachen. Wer sich gründlich über die Morde an Kranken und Behinderten informieren will, muss nach Grafeneck fahren. In Stuttgart, wo mitten in der Stadt im Innenministerium für die Umsetzung der Mordaktion gesorgt wurde, ist das nicht möglich. Ähnliches gilt für die Sinti. Gründlich informieren kann man sich nur im Dokumentationszentrum in Heidelberg. In der Landeshauptstadt selber, wo die Kripoleitstelle die Verfolgung organisiert hatte, ist das nicht möglich. Es gibt nicht einmal einen Ort, an dem die Verfolgung und Vernichtung der württembergischen Juden, ihre schrittweise Entrechtung und Ausgrenzung, ihre Ausplünderung in Zusammenarbeit mit den Finanzbehörden, ihre erzwungenen Umsiedlungen vor den Deportationen umfassend dargestellt werden einschließlich der daran beteiligten Institutionen des NS-Staates, der unterschiedlichen Täter und privaten Profiteure.
  4. Es gibt große Lücken in der Erforschung und Dokumentation der NS-Zeit in Stuttgart und Württemberg. Die Erforschung der Biografien und des individuellen Schicksals der ermordeten früheren Nachbarn und Mitbürger blieb in den vergangenen Jahren weitgehend bürgerschaftlichem Engagement  überlassen. Nirgendwo werden die Aussagen von Zeitzeugen systematisch gesammelt und deren Erfahrungen auf diesem Weg kommenden Generationen zugänglich gemacht.  Erst vor zwei Jahren wurde die Deportation der 234 württembergischen Sinti im März 1943 als Ereignis der Stadt- und Landesgeschichte aufgedeckt und ins öffentliche Bewusstsein gerufen. Auch die Erforschung des Schicksals  von Kranken und Behinderten aus Stuttgart wurde ehrenamtlich geleistet. Ebenso lückenhaft ist die lokale und regionale Täterforschung.  Ebenfalls ehrenamtlich und ohne öffentliche Förderung erschien im vergangenen Jahr das erste Buch über Stuttgarter NS-Täter. Die Auseinandersetzungen um das Buch, insbesondere der Rechtsstreit um die Rolle von Karl Lempp bei der Kindereuthanasie,  machten deutlich, dass die Aufarbeitung der Geschichte der Stadtverwaltung in der NS-Zeit erst noch zu leisten ist. Dasselbe gilt  für die Landesministerien und Landesbehörden. Archivare versichern, dass sehr viele Behördenbestände noch nie durchforstet wurden.  Der Chef von Breuninger erfährt erstmals aus diesem Buch über die Beteiligung seines Vorgängers  an den NS-Verbrechen. Für wie viele Firmen in Stuttgart und Württemberg mag das sonst noch zutreffen? Deutlich wurde in all diesen Fällen, wie ehrenamtliches Engagement hier an seine Grenzen stößt, dass eine öffentliche Aufgabe vernachlässigt wurde.
  5. Ein klarer Beleg für die Lücken in Forschung und Dokumentation und die daraus folgenden Verzerrungen im öffentlichen Bewusstsein  ist das Hotel Silber selber. Seit vor zwei Jahren die öffentliche Diskussion um die ehemalige Gestapoleitstelle in der Dorotheenstraße 10 begonnen hat, wird deren historische Bedeutung immer wieder reduziert auf die drei Verwahrzellen im Keller des Gebäudes. Von den dort noch sichtbaren oder nicht mehr sichtbaren Spuren aus der NS-Zeit wird die Entscheidung über die Erhaltung des Gebäudes abhängig gemacht. Die Rolle des Hauses wird reduziert auf die dort begangenen Grausamkeiten. Die für den Nationalsozialismus charakteristische bürokratisch perfektionierte Organisation der Verfolgung und Vernichtung wird in der Wahrnehmung des Hotel Silber ausgeblendet.  Von hier aus wurden die „Schutzhaftlager“, die Gestapogefängnisse und „Arbeitseinsatzlager“ im Land eingerichtet, von hier aus wurde die Überwachung und Bespitzelung der Bevölkerung organisiert, von hier aus wurden die Verfolgungsmaßnahmen gegen so genannte Asoziale, gegen Homosexuelle, gegen widersetzliche Religionsgemeinschaften koordiniert.  Hier, in den oberen Stockwerken der Dorotheenstraße 10  wirkte das „Judenreferat“ der Gestapo, dem die Schlüsselrolle zukam bei der Terrorisierung und Vernichtung der württembergischen Juden.  Von hier aus  wurden die Züge in die Vernichtungslager organisiert.
  6. Hier mitten in Stuttgart, im Herzen Württembergs hatte die Zentrale des NS-Terrors in Württemberg  ihren Sitz, wie auch der Nationalsozialismus mitten in der Stuttgarter Stadtgesellschaft verankert war.  Kein Ort eignet sich besser für ein Stuttgarter und Württemberger NS-Dokumentationszentrum. An diesem Haus kann die Stuttgarter Geschichte des 20. Jahrhunderts abgelesen werden.. Gerade auch der Name „Hotel Silber“ macht den epochalen Bruch in der Geschichte des 20. Jahrhunderts deutlich. Die Authentizität des Gebäudes ist längst erwiesen. Sie hängt nicht davon ab, wie viele sichtbare Spuren im Hotel Silber erhalten sind. Denn auch deren Beseitigung ist Teil der Geschichte, ist Beleg für den Umgang mit der NS-Zeit in den darauf folgenden Jahrzehnten. Das entscheidende Argument für die Authentizität des Hotel Silber liegt jedoch in den Erinnerungen der Opfer und ihrer Angehörigen. Stellvertretend für viele geflohene Stuttgarterinnen und Stuttgarter, die zur Auseinandersetzung ums Hotel Silber Stellung genommen  haben, fragt Charlotte Isler aus New York, nachdem sie über die Verhaftung ihres Vaters in der Pogromnacht berichtet hat: „Diesen historischen Ort, der allen Stuttgartern bekannt sein sollte, damit sie nie vergessen was ihre Väter während der NS Zeit verbrochen haben, wollen Sie einfach abreißen?“ Was werden wir ihr antworten?
  7. In einem NS-Dokumentationszentrum im  Hotel Silber wäre – mitten in der Stadt – Geschichte begehbar und erfahrbar.  Deshalb bietet sich dieses Haus an als Ort der Auseinandersetzung mit der konkreten NS-Geschichte Stuttgarts und Württembergs, als Ort politischer Bildung. Es macht einen großen Unterschied, ob Besucherinnen und Besucher  erfahren: „In diesem Haus ist folgendes geschehen“, oder ob ihnen in einem geschichtslosen Neubau gesagt wird: „Hier stand einmal ein Haus, in dem…“ Das gilt insbesondre für die Arbeit mit Jugendlichen, denen biografische Bezüge zur NS Zeit fehlen. Jugendliche brauchen konkrete Zugänge zu einem Thema, wenn es ihr Interesse wecken soll.  Bald wird es keine Zeitzeugen mehr geben, die von ihren  Erlebnissen berichten können. Umso wichtiger sind Gebäude wie das Hotel Silber als „steinerne Zeugen“ der NS-Verbrechen.  Stuttgart ist in der historisch einmaligen Lage an einem authentischen Ort in der Dorotheenstraße einen außerschulischen Lernort einrichten zu können, einen Ort, der als Ausgangspunkt dient, sich mit der Geschichte des NS-Regimes in unserer Stadt zu beschäftigen. Hier könnte ein Ort entstehen,  an dem Jugendliche und ehrenamtlich engagierte Bürgerinnen und Bürger mit fachkundiger Unterstützung an eigenen Geschichtsprojekten arbeiten. Hier könnte sich Forschung mit Lernen verbinden,  hier könnten die blinden Flecken  in der Erforschung der Stuttgarter und Württemberger NS-Geschichte  in systematischer Zusammenarbeit mit Hochschulen angegangen werden.  Sicher wäre es auch ein Ort des Gedenkens, doch im Vordergrund sollte hier das Lernen stehen, das Verstehen, das Durchschauen von Zusammenhängen und das Herstellen von Bezügen zur Gegenwart
  8. Die politisch Verantwortlichen in Stadt und Land haben die Wahl. Werden sie die seit Kriegsende anhaltende Politik der Verdrängung und Vertuschung der Stuttgarter und Württemberger NS-Geschichte mit dem Abriss des Hotel Silber vollenden?  Es ist kein Zufall, dass die Projektbetreiber  ihre eigene Beteiligung an den NS-Verbrechen nicht aufgearbeitet haben. Das gilt für das Finanzministerium, dessen Behörden bei der Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung eng mit der Gestapo zusammengearbeitet hatten und die in der Nachkriegszeit oft gehässig  mit den Entschädigungsansprüchen von Überlebenden umgingen. Das gilt für die Firma Breuninger, die sich an der Ausschaltung jüdischer Konkurrenz bereicherte und  ihren Geschäftserfolg auf engste Zusammenarbeit mit dem NS-Regime aufbaute. Der Umgang mit der ehemaligen Gestapoleitstelle steht exemplarisch für die „Zweite Schuld“, wie Ralf Giordano den Nachkriegsumgang mit der NS-Zeit charakterisierte. Bald nach Kriegsende zieht die Kripo in das in großen Teilen erhaltene Gebäude ein und für Sinti, Homosexuelle und Kommunisten geht hier die Verfolgung weiter – oft durch dieselben Akteure wie in der NS-Zeit. 1976 verkauft die Stadt das Gebäude ohne irgendwelche Auflagen ans Land. Stimmen wie die von Eugen Eberle oder der Jusos, die eine Gedenkstätte fordern, werden überhört. Das Finanzministerium, das hier jetzt Büros bezieht, weigert sich außen am Gebäude eine Gedenktafel anzubringen.  Kein Wunder, dass die Geschichte des Hauses  aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwindet.  Und genau dieses provozierte Vakuum an Spuren und an öffentlichem Bewusstsein wird nun als Argument für den Abriss angeführt.  Der Abriss wäre auch eine Fortsetzung der Stuttgarter Serie von Zerstörungen historischer Bausubstanz: Mendelssohns Kaufhaus Schocken,  Kronprinzenpalais, Altes Steinhaus, Hohe Carlsschule. Die Erhaltung des Hotel Silber als NS-Dokumentationszentrum bietet die Chance, mit dieser Tradition der Verdrängung und Beseitigung zu brechen und den Ort auch zu einem Ort der Auseinandersetzung mit der Nachkriegsgeschichte werden zu lassen.
  9. Der Gewinn für Stuttgart, wenn das Hotel Silber erhalten bliebe,  kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Unverwechselbare Gebäude im Stadtbild sind ein Wert für sich. Im Städtebauauschuss des Stuttgarter Gemeinderats betonte Arno Lederer, dass es  langfristig zu großen Problemen in der Stadtentwicklung führe, wenn die Geschichtlichkeit eines Ortes verlassen werde. Und Fritz Auer ergänzte, dass sich die Erhaltung des Hotel Silber als eine Möglichkeit zur größeren städtebaulichen Differenzierung des Bauprojektes anbiete.  Der Gewinn kann auch durchaus wirtschaftlicher Art sein. Das Kölner NS-Doku-Zentrum beispielsweise zieht jährlich 50.000 Besucherinnen und Besucher an, darunter viele aus den Niederlanden, aus Belgien, aus Frankreich. Anreisende Angehörige von geflohenen ehemaligen Kölnern erleben, wie sich die Stadt ihrer Geschichte gestellt hat und bringen ihre Anerkennung zum Ausdruck. Der größte Gewinn läge jedoch im Beitrag dieses Hauses zur kulturellen Identität, zur Selbstdefinition der Stadt. Die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit ist nicht akademisch. Sie berührt alle Fragen der Gegenwart und Zukunft. Wie will diese Gesellschaft mit Minderheiten und Unterschieden umgehen? Wie mit Rassismus, Diskriminierung und Ausgrenzung? Wie misst sie den Wert des Lebens? Wie geht sie mit Armut um, wie mit Krankheit und Behinderung ? Das NS-Dokumentationzentrum im erhaltenen Hotel Silber könnte so auch ein Ort der  Auseinandersetzung mit den Zukunftsfragen unserer von Einwanderung und kultureller Vielfalt geprägten Stadtgesellschaft werden.  „Nur solche Erinnerung ist fruchtbar“ formulierte Ernst Bloch, „die zugleich daran erinnert, was noch zu tun ist.“

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